Pionier des Gemeinwohls.
Zum 100. Geburtstag von Arthur F. Utz
Von Wolfgang Spindler
Polemik war nicht seine Sache. Sein umfangreiches, mehrsprachiges Werk setzt auf die Überzeugungskraft akribischer Unterscheidungen und Argumente. Es macht, zumal aus der heutigen Sicht eines an Knalleffekte gewöhnten Wissenschaftsbetriebs, einen eher spröden Eindruck. In gewisser Weise spiegelt sich darin das Wesen des 2001 verstorbenen Sozialethikers und Dominikaners Arthur Fridolin Utz, der heute vor 100 Jahre geboren worden ist. Gleichwohl hat der aus Basel stammende Sohn eines badischen Bahnangestellten die Spannungen und Umbrüche des 20. Jahrhunderts nicht nur passiv erlebt, sondern mit seinen Gedanken und Positionen mitgeprägt.
Die längste Zeit seines 93 Jahre währenden Lebens widmete Utz dem Studium, vor allem der großen Gesellschaftsentwürfe vom Ausgang des Mittelalters bis zur Moderne. Ungebrochene Faszination übte auf Utz die philosophisch-theologische Synthese des Thomas von Aquin aus. Wie viele Dominikaner war er, damals 20 Jahre alt, ihretwegen in den Predigerorden eingetreten. 1937 promovierte er in Fribourg bei Santiago Ramírez über den inneren Zusammenhang der moralischen Tugenden nach Thomas und eignete sich in jahrzehntelanger Arbeit das Gesamtwerk des Heiligen an. 1946 auf den neuen Lehrstuhl für Ethik und Sozialphilosophie in Fribourg berufen, entwarf Utz eine Sozialethik (so auch der Titel seines fünfbändigen Hauptwerks), die strikt seinsphilosophisch fundiert ist und außer der Annahme eines durch natürliche Theologie erkennbaren Schöpfergottes keine Glaubensinhalte voraussetzt. Das machte sie nicht nur für nichtchristliche Ethiker und Rechtsphilosophen attraktiv, sondern erleichterte auch den Dialog mit säkularen Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmern, den Utz auf vielen von ihm veranstalteten internationalen Kongressen und als Leiter des Freiburger Internationalen Instituts für Sozialwissenschaften und Politik (1946 bis 1978), der Internationalen Stiftung Humanum (1976 bis 1998) sowie des Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg (1966 bis 1993) pflegte.
Im Rückgriff auf Aristoteles und Thomas begründete Utz die Sozialnatur des Menschen, die diesen verpflichtet, sein Ziel in der Gemeinschaft mit anderen zu suchen. Wie das Individuum in seiner Ausrichtung auf Gott wahres Glück anstrebt – der Mensch kann ja nicht unglücklich sein wollen, denn wenn er es wollte, wäre eben dies sein Glück – , so ist im sozialen Bereich das bonum commune (Gemeinwohl) das Objekt sittlicher Entscheidungen. Das Gemeinwohl muß unter Berücksichtigung der Interessen aller ihre persönliche Vervollkommnung intendierenden Einzelnen jeweils bestimmt werden. Den praktischen Realismus im ethischen Ansatz des Aquinaten übertrug Utz auf die Bedingungen des 20. Jahrhunderts und fand damit bei vielen Gehör. Eine rege Berater- und Gutachtertätigkeit für Unternehmen und Regierungen brachte ihm internationale Ehrungen ein. Die 1994 errichtete Päpstliche Akademie für Sozialwissenschaften geht maßgeblich auf seine Initiative zurück.
Kritik erfuhr Utz eher von katholischen Kollegen, die dem modernen Dogma der „postmetaphysischen“ Normenbegründung huldigten und bei einer Rückkehr „hinter“ Kant um ihre universitätspolitische Anschlußfähigkeit fürchteten. Utz indessen hatte die diversen „Urmeter“ moderner Wissenschaftsstandards genau studiert und ihre Erkenntnistheorien für ungenügend und nicht überzeugend befunden. Die zum Gemeinplatz gewordene Kritik am Naturrecht der katholischen Soziallehre prallte an Utz ab. Gelang es ihm doch nachzuweisen, daß viele vorurteilsbedingt oder intellektuell nicht imstande waren, den Naturbegriff des klassischen Naturrechts von Naturalismus und Faktizität zu unterscheiden und Normen mittels Realabstraktion des Seins abzuleiten.
Der Unterschied zeigte sich deutlich in der Debatte um den deutschen Schwangerenberatungsschein. Während sich die Befürworter des Beratungsmodells damit begnügten, ihr Wertebewußtsein daraufhin zu befragen, ob es den Willen zum Guten im Sinne einer Begrenzung der Abtreibungszahl enthalte, untersuchte der Thomist, wie sich der Beratungsschein in der Realität auswirkte, nämlich als conditio sine qua non tatsächlicher sittenwidriger Tötungen von Ungeborenen. Utz erinnerte damals die Glaubenskongregation unter Kardinal Ratzinger an ihre eigene moraltheologische Tradition eines am Sein orientierten konkreten Imperativs. An dem in Nr. 74 der Enzyklika „Evangelium vitae“ (1995) für erlaubt erklärten Votum eines Abgeordneten für ein Abtreibungen „regelndes“ Gesetz zum Zweck der Schadensbegrenzung bemängelte er ein Abgleiten in die idealistische Phänomenologie. Verantwortlich machte Utz dafür einen ontologisch unzureichend ausgebildeten jesuitischen Mitarbeiterstab. Leider hat er seine Korrespondenz mit Rom wie überhaupt fast alles Persönliche kurz vor seinem Tod dem privaten Autodafé im heimischen Garten übergeben.
Mit über 90 Jahren vollendete er seine „Sozialethik“ mit dem letzten Band, der „Politischen Ethik“. Darin setzte sich er sich – auf dem Zenit seines Könnens – auch mit der Politischen Theologie Carl Schmitts (1888–1985) auseinander, den Utz nach dem Zweiten Weltkrieg im Dominikanerkloster Walberberg kennengelernt hatte. Sein letztes Buchprojekt, den „Weg des Menschen zum dauerhaften Glück und inneren Frieden“, konnte Utz nicht mehr abschließen. Anerkennende Worte für menschliche Bedürfnisse hätte der bis ins hohe Alter skifahrende Raucher toskanischer Zigarren darin bestimmt gefunden. Die Methode, das christliche Menschenbild an die konkrete soziale Wirklichkeit heranzuführen, bleibt das Vermächtnis, das von seinem Lebenswerk ausgeht.
Der Artikel wurde in einer leicht gekürzten Fassung in der „Tagespost“ (Würzburg) vom 15. April 2008, S. 4, veröffentlicht.